vortrag.marius babias.
>zurück . veranstaltungen . vorträge
Der öffentliche Körper


"Der öffentliche Körper"

Marius Babias, Essen/ Berlin

Marius Babias ist z.Z. Kurator der Kokerei Zollverein.Kunst und Kritik in Essen

Ich will zunächst den Stand der Kunst-im-öffentlichen-Raum-Diskussion kurz rekapitulieren, um dann zu meiner eigentlichen These vom letztlich uns noch verbliebenen so genannten öffentlichen Freiraum vorzustoßen; der öffentliche Raum ist aus meiner Sicht schon lange nicht mehr in Fußgängerzonen, in der Landschaft oder im Stadtraum zuhause, der öffentliche Raum und seine psycho-ökonomischen Koordinaten beschriften und tätowieren zunehmend unsere Körper, deren physischen Produkte und psychischen Überformungen wir geworden sind; dieser "öffentliche Körper", den wir im so genannten öffentlichen Raum dann spazieren tragen, ist ein Anwendungsmodell und eine politische Projektion all dessen, was wir Gesellschaft nennen.

Thema dieses Vortrags ist also nicht die "Kunst im öffentlichen Raum". Und es geht mir auch nicht darum, die Ränder dieser verflachten Diskussion über den öffentlichen Raum abzugrasen, um einen neuen Stilbegriff theoretisch zu legitimieren.

Zugespitzt könnte man formulieren, dass Kunst im öffentlichen Raum stets die herrschende Ideologie aktiv mitkonstruiert hat - besonders krass in den ehemaligen staatssozialistischen Ländern Osteuropas. Aber auch Skulpturen, Denkmäler und Gedenkstätten im Westen lassen sich in einem Konzept der politischen Repräsentation fassen und daraufhin untersuchen, wie sie in die Systeme von Herrschaft und Subordination eingebunden sind. Galt in den 1980er Jahren, dass der gesellschaftliche Polarisierungsbedarf in der mehr oder weniger autonomen, zumeist unverständlichen Außenskulptur einen attraktiven Fetisch vorfand, an dem sich bürgerliche Empörung, Ablehnung und Bilderstürmerei stellvertretend und simulativ austoben konnten (ein prominentes Beispiel für eine solches demokratisches Porarisierungsbedürfnis ist der "Skulpturenboulevard" 1987 in Berlin), so ging es in den neunziger Jahren eher darum, die politischen und sozialen Konfliktfelder der Gesellschaft selbst zum Gegenstand einer Kunst des Öffentlichen zu machen, die Außenskulptur abzuschaffen und gegen so genannte Projekt-Kunst einzutauschen. Ein Projekt hat ein Realisierungsziel, und es besteht aus unterschiedlichen intensiven Kommunikationen und Situationen, es ist ein Prozess permanenter Verifikation sozusagen von Falsifizierungen. Beispiele dieser so genannten Public Art sind die "Culture in Action"-Projekte in Chicago 1992 oder "weitergehen" in Hamburg 1997-98.

Rollenmodell Künstler/in

Was ist nun das Spezifische der Public Art der neunziger Jahre? Public Art agierte im Bewusstsein einer gesellschaftlichen Dauerkrise. Sich unabhängig von der autonomistischen Geschlossenheit des Werks zu machen und in oftmals parallel geschalteten verschiedenenartigen Rollen, Medien und Genres zu schlüpfen, ist ein Kennzeichen der Public Art sowie die Verschiebung des Rollenmodells Künstler/Künstlerin hin zum Kulturproduzenten/Kulturproduzentin. Projekte der Public Art waren nicht mehr in den gängigen Diskussionsparametern der "Kunst im öffentlichen Raum" angesiedelt, Public Art oder Projekt-Kunst hatte sich längst soziale/politische/mediale Zonen angeeignet und war nicht mehr skulptural oder topographisch festzulegen. Allerdings schwebte über der Projekt-Kunst die permanente Gefahr der Inszenierung von Öffentlichkeit. Einerseits lassen sich die politischen Widerstände als Produktionsmoment verstehen. Andererseits setzt sich eine interventionistische Kunstpraxis der Gefahr aus, sowohl Versäumnisse in der Sozialpolitik zu kaschieren als auch eine spätere stilbildende und kommerzielle Verwertbarkeit im Kulturbetrieb schon mal einzuüben. Aus dieser Kulturalisierung zog die Projekt-Kunst der 1990er Jahre einige Konsequenzen: keine Imagination einer totalisierten Öffentlichkeit - was ja der Trugschluss der selbsterklärten Avantgarden bis in die siebziger Jahre hinein gewesen war -, sondern Dezentralität, Vernetzung und Kristallisation in Teilöffentlichkeiten.

Zwei Hauptuntersuchungsfelder der Projekt-Kunst waren und sind Stadtentwicklung bzw. Urbanismus und Internet bzw. Netzkultur. Insbesondere die Utopie vom Netz als herrschaftsfreien Raum ist in eine Krise geraten, die sich deutlich am Veröden von Newsgroups und dem langsamen Verschwinden von politischen Themen außerhalb selbstreferentieller Internet-News zeigt - von der Privatisierung der Information und der Kommerzialisierung des Wissens ganz abgesehen.

Das zweite Issue der Projekt-Kunst war die Kritik an der Dienstleistungsfunktion der Kunst bei der Besetzung lokalen Stadtraums durch Wirtschaft und Politik; im Rückgriff auf Henri Lefèbvre (Die Revolution der Städte, 1972) und die Hausbesetzer-Bewegung Ende der 1970er Jahre wurden in einigen Projekten in den 1990er Jahren die politi-schen Hierarchien der "verstädterten Gesellschaft" kritisiert und neue Handlungsräume zu besetzen versucht. Die Revolution, so hatte bereits Lefebvre Anfang der 1970er Jahre gefordert, müsse von der Wohnung jedes Einzelnen ausgehen.

Was ich mit diesem kurzem historischem Abriss der Kunst im öffentlichen Raum sagen will: Die guten alten Zeiten, als noch nach Herzenslust über Stadtmöblierungen polemisiert werden konnte, schienen Mitte der 1990er Jahre endgültig vorbei zu sein.

Postfordistische Subjekt-Reproduktion

Ende der 1990er Jahre trat dann der "öffentliche Körper" auf den Plan, wie ich das Phänomen der Induktion von gesellschaftlicher Wirklichkeit in das Innere der Subjekte nennen möchte. Gemessen am allgemeinen Umschreibungsprozess des Lebendigen in einen Roboter des Warenförmigen, ist das Thema "Kunst im öffentlichen Raum" eine Banalität, aber Banalitäten haben eine zähe Langlebigkeit an sich. Sie scheinen so selbstverständlich und wirkungsmächtig zu sein, dass sie leicht mit Bedeutsamkeit verwechselt werden. Nur weil etwas penetrant behauptet wird, ist es deshalb nicht gleich wahr oder wichtig. So verhält es sich auch mit der Kunst im öffentlichen Raum. Trotz der sukzessiven Umwandlung der Kunst in ein Medium der Subjekt-Reproduktion unter den herrschenden psycho-ökonomischen Bedingungen des Postfordimsus, trotz der unübersehbaren Privatisierung öffentlicher Räume und politischer Foren mit dem Effekt, dass der Subjekt-konstituierende Anteil der Kritik zurückgeht und der Anteil der Warenwelt an der identitären Ausformung von Subjektivität zunimmt, und schließlich trotz der seit Mitte der neunziger Jahre heftig geführten Stadtentwicklungs- und Urbanismus-Debatten, die den naiven Öffentlichkeitsbegriff vieler Kunst-im-öffentlichen-Raum-Projekte eigentlich längst erledigt hatten, hält sich dieses Genre hartnäckig.

Was ist schief gelaufen? Weshalb wird die Öffentlichkeit noch immer mit Kunst-im-öffentlichen-Raum-Projekten konfrontiert bzw. belästigt, die dem alten und überlebten Konzept der Stadtmöblierung folgen, oder - in der neueren Variante des Millenniumshedonimsus - als Generatoren unterhaltsamer Konflikte fungieren? Weshalb wird der Stadtraum noch immer als ästhetische Problemzone konstruiert, obwohl die dramatischen Veränderungen des Öffentlichkeitsbegriffs sich woanders abspielen, nämlich auf dem Feld des Sozio-Personalen und des Psycho-Ökonomischen? Weshalb werden trotz besseren Wissens Konzeptionen eines öffentlichen Imaginären reanimiert, restauriert und reformiert - und zwar derzeit in einem wesentlich problematischeren Abhängigkeitsbereich des Politischen und Kulturellen, als es die vergleichsweise leicht zu durchschauende Stadtmöblierung jemals war, nämlich in jenem politisch überformten Bereich von Kunst-am-Bau?

Um ein abschreckendes Beispiel zu geben: Die Auftragsprojekte für die Berliner Bundesbauten verpflichteten die Künstler und Künstlerinnen, identitäre Sinnangebote für die Schrödersche Zivilgesellschaft bereitzustellen. Genau darin besteht heute wieder die Aufgabe der reanimierten Stadtmöblierung im Gewande der Berliner Kunst-am-Bau-Projekte. Die künstlerische Ausstattung der Berliner Regierungsbauten hatte zwar den Aktionsradius von Kunst im öffentlichen Raum scheinbar neu vermessen - sozusagen im inneren Außenraum der Gesellschaft, der Legislative -, doch wurde diese hauptsächlich um den dürftigen Topos der "Berliner Republik" zentrierte Diskussion weder in eine generelle Debatte um die neuartigen sozio-personalen und kulturellen Expeditionen des Politischen positioniert noch wurde die Frage nach der ästhetischen Strategie der jeweiligen Projekte grundlegend neu erörtert. So sind die allermeisten Projekte Ausdruck einer künstlerischen Individualität und einer sportiven Dabei-sein-ist-alles-Strategie geblieben. Man ist ja schon dankbar, dass die Grafittis, die russische Soldaten bei der Eroberung des Reichstags 1945 im Gemäuer hinterlassen hatten, nun als historisches Ornament die Gänge und Fluren des Reichstags zieren, obwohl der Hintergedanke der Planer ein anderer war: dem Reichstag eine archäologische Anmutung zu geben, ihn in eine neuzeitlich-demokratische Höhle von Lascaux zu verwandeln.

Die kulturelle Deutungshoheit des Politischen

Dabei hätten sich aus der Konstellation der Auftragsvergabe durch den Bund brisante Fragen ergeben müssen. Ein Projekt - Hans Haackes Der Bevölkerung - wagte den Konflikt, auch wenn die öffentliche Diskussion darüber als Provokationskalkül abgestempelt wurde und die eigentliche Brisanz verdeckte. Hans Haacke wird einfach den Ruf nicht los, ein kunstpolitischer Provokateur zu sein. Von links nach rechtsaußen waren sich viele Kritiker einig. Sie argumentierten, Haacke habe doch einen hübschen Medienerfolg erzielt, eine Realisierung sei überflüssig, da der Künstler seine Aufgabe bereits erfüllt habe, nämlich im ästhetischen Konflikt zugleich den politischen sichtbar gemacht zu haben. Mehr könne kritische Kunst nicht leisten. Diesem Argument ist entschieden zu widersprechen, da es die kritische Rolle des Künstlers bei der Befragung des gesellschaftlichen Wandels und Umbaus, so wie Haacke sie versteht, loslöst aus dem werkautonomen Kontext und stattdessen zum Gegenstand eines je nach Stimmungslage und Parteipolitik wechselnden Interesses macht. Die Absurdität der Debatte, die weder Teil des Kunstwerks noch ihr Ersatz sein kann, drückte sich in der vorauseilenden und emotionsgeladenen Interpretation eines Werks aus, das noch gar nicht existierte. Es war ein Versuch der Politik, kulturelle Deutungshoheit zu erlangen.

Etwas anderes machte die Haacke-Debatte ganz nebenbei deutlich: Der "öffentliche Raum" und die in der Demokratie hoch gehaltene "öffentliche Meinung", dieses Sammelbecken kritischer Mündigkeit, worin Adorno und die 68er so große Hoffnungen gesetzt hatten, haben sich im Infotainment-Zeitalter zu einem Warenhaus der Meinungen gewandelt, die in Wahrheit dem Kritischen entgegenarbeiten, um sich auf dem Markt besser verkaufen zu können. Es ist das zweifelhafte Verdienst der öffentlichen Debattenkultur - die ständig auf der Suche ist nach originellen Formen der Subjekt-Reproduktion, die ihr unter anderen die Kunst zur Verfügung stellt -, einen medialen Erzähl- und Erlebnisraum konstruiert zu haben, in dem Konflikte generiert und gesellschaftliche Widersprüche skandalisiert werden können - der Prototyp eines solchen Skandal-Künstlers ist Christoph Schlingensief. Dass in solchen Skandal-Projekten die Widersprüche der ausgerufenen Zivilgesellschaft an die KünstlerInnen für eine temporäre Problemlösung delegiert werden, was sich zu Zwecken des Stadtmarketings hervorragend eignet, ist nicht verborgen geblieben.

Es hat sich bis nach Leipzig und Lüneburg herumgesprochen, dass der öffentliche Raum längst nicht mehr auf öffentlichen Plätzen und Straßen im Stadtraum zuhause ist, sondern er es sich auch in den institutionellen Kontrollzonen selbst gemütlich gemacht hat, weshalb immer mehr Kunstvereine, Kunsthallen und Museen auch in der Provinz die zunehmende Entöffentlichung von Information, Wissen und Subjektivität thematisieren. Dass aber die Stoßrichtung dieser institutionellen Initiativen, die auf einmal ihr Herz für Drogenkonsumenten, Obdachlose und verwahrloste Ghetto-Kids entdeckt haben, auf die Scheinversöhnung sozialpolitischer Konflikte und vor allem auf die Ausdrucksbiotope der Subjektivität zielt, sozusagen auf den öffentlichen Körper der Subjekte, klammern solche vorgeblich "kritischen" Ausstellungsprojekte zumeist aus.

Kann es sein, dass der Grund für die zunehmende Tätowierung der öffentlichen Körper mit künstlerischen Sinnangeboten genau in dieser von den Institutionen geförderten kritischen Kunstpraxis begründet liegt - sozusagen als zyklische Gegenreaktion auf den kommunitaristischen Rigorismus der Public Art? Auch in der Wiederkehr der Stadtmöblierung im Gewande der Kunst-am-Bau-Projekte für die Berliner Bundes-bauten lässt sich dieses Strukturmoment erkennen: Die Beauftragung von öffentlicher Kritik in Form von Kunstprojekten ruft die Chimäre einer demokratischen Meinungsfrei-heit an, die mit letzter Kraft ihre mühseligen Sinnangebote zusammenkratzt, um behaupten zu können, dass die Kunst frei sei. Längst sind die sozialen Ränder der Gesellschaft zerfranst, die sozio-personale Sphäre und das Alltagsleben fest im Griff der Marketingstrategen, die öffentlichen Körper mit Warenlogos übersäht, während die KünstlerInnen, die doch in Wirklichkeit die Grenzen zwischen den "objektiven" und "subjektiven" Kriterien der Veränderung im Dienste der Psycho-Ökonomie verschieben, noch immer die Konstruktion des gesellschaftlichen Imaginären für sich in Anspruch nehmen.

Hau von zuhause ab!

Der öffentliche Raum, den die Situationisten ebenso wie die Punks als soziopolitisches Aktionsfeld und als Lebensraum zur Rückeroberung der Subjektivität verstanden, entwickelte sich 30 Jahre später zu einer gigantischen Shopping Mall für jedes noch so bizarre Bedürfnis. Es gibt praktisch keine Logo-freie Fläche mehr im Stadtraum, die Warenwelt ist Naturzustand geworden. Und das, was gemeinhin unter Natur verstanden wird - grüne Bäume, saftige Wiesen oder pittoreske Badestrände - wurde zu einem Edelerzeugnis der Freizeit- und Dienstleistungsindustrie. Der Albtraum des vergeudeten Lebens ist heute Wirklichkeit geworden: Club-Reisen und Adventure-Tripps, Sex- und Kriegstourismus.

Und in dieser Ursuppe des Überflüssigen, die sich Millennium nennt, schwimmen unsere mit Slogans und Symbolen, mit grellen Logos und falschen Versprechungen tätowierten Körper. Unsere Körper sind zu Ersatzteillagern von Tommy Hilfiger und Calvin Klein, zu Werbeflächen einer global organisierten Warenwelt geworden, unsere Gene werden patentiert und kommerzialisiert. Unser Lebensraum erscheint bis ins kleinste Detail und bis in die letzte Ecke Privatsphäre kommerzialisiert. Angesichts der allgegenwärtigen Verwandlung alles Lebendigen in eine Ware würde sich Gregor Samsa, Kafkas tragischer Held, heute nicht mehr in einen Käfer, sondern in ein Snowboard der Marke Shorty's verwandeln.

Der Schwund von Öffentlichkeit hat nicht nur fatale Konsequenzen für die politische Mündigkeit. Auch unsere Körper, die letzten Reservate der Privatsphäre und der Lebenswelt, rücken auf einmal in die Verfügungsgewalt von Symbol- und Lifestyle-Produzenten, die sie mit Warenlogos tätowieren, mit allerlei Sinnangeboten beschriften und profitabel vermarkten wollen. Was wir in der Öffentlichkeit spazieren tragen, sind immer weniger individuelle und immer mehr "virtuelle Körper", die nicht mehr uns, sondern Nike und Reebok gehören.

Der "virtuelle Körper" von morgen

Im von Signifikanten gesäuberten medialen Erzähl- und Erlebnisraum der Meinungsgesellschaft ist das Zappen durch Programme, Themenparks und Ich-Ersatzteillagern zum Synonym für Öffentlichkeit geworden. All jene Formen des Aktionismus, welche die Lifestyle-Industrie der Lebenswelt entrissen und zu Robotern des aktiven Handelns gemacht hat, sind ebenso Anzeichen von Resignation und Verzweiflung, wie umgekehrt die Appropriation einer von der Praxis abgeschälten Renitenz. Die Zeitgeist-Industrie hat die Produktion eines Zeitgeistes, der unablässig kulturelle Gegensatzpaare wie Overground/Underground produziert, um die neue Ressource Subjektivität ausbeuten zu können, fest im Griff.

Die drei Leitprinzipien des öffentlichen Körpers heißen Virtualität, Reengeneering und "integrierte Fabrik".

Das Paradox der ein kritisches Issue nach dem anderen vertilgenden Medien-, Meinungs- und Debattenkultur produziert in der sozio-personalen Sphäre die Sehnsucht nach echten Sinnangeboten, welche u. a. die Kunst zur Verfügung stellt. Man kann, wie Paul Virilio, das Ende des Proletariats und die allgemeine Entpolitisierung der Gesellschaft auch aus einer dromologischen Perspektive beschreiben und kommt zum selben Ergebnis: Der technologische oder dromologische Fortschritt produziere zwar einen sozialen Fortschritt, aber diese Koinzindenz basiere auf dem "vagen Vernünftigmachen von seelenlosen Körpern zu metabolischen Vehikeln". Virilio spielt hier auf einen durch Nano-, Gen- und Biotechnologien transzendierten "öffentlichen Körper" der Zukunft an.

André Gorz hat im Kontext seiner Überlegungen zum Verschwinden der fordistischen Arbeitsgesellschaft den "virtuellen Körper" vom morgen folgendermaßen beschrieben: "Die allgegenwärtige Digitalisierung schafft nicht nur die Arbeit (im Sinne von poiesis) ab, also die körperlichen und manuellen Fertigkeiten. Sie schafft auch die sinnlich erfahrbare Welt ab (...) Sie disqualifiziert die Sinne, setzt die Gewißheit außer Kraft und entzieht den Boden unter den Füßen. Immer leistungsstärkere Prothesen ersetzen die Sinnesorgane. Mikromotoren werden in den Körper eingepflanzt, kolonisieren und motorisieren ihn. Elektronische Simulationen treten an die Stelle der Reize der fühlbaren Welt, verschaffen dem Körper intensivere Lustgefühle als das unangemessen gewordene Wahrnehmungsvermögen und überkompensieren durch Halluzinationen die Ungreifbarkeit der virtuellen Welt."

Mit anderen Worten: Der Techno-Fortschritt hat einen hohen Preis, den Verlust der eigenen Welt und des eigenen Körpers, der zum virtuellen Träger des Technologischen wird. Die Techno-Wissenschaft wird gleichsam zum Subjekt der Produktion, des Denkens und des Werdens, sie hebt die Grenze zwischen dem Technischen und dem Lebendigen auf. Zur neuen Leitdisziplin der Humanwissenshaften, so Gorz, würde die so genannte "Technosophie" aufsteigen - "ein totaler Sieg des immateriell gewordenen Kapitals (...), dem es [dadurch] gelingt, die Menschen ihres Körpers und ihrer Welt zu enteignen, um sich ihr Leben total zu eigen zu machen" .

Die sozio-personale Sphäre und das Alltagsleben, die scheinbar letzten noch verbliebenen Ausdrucksbiotope der Subjektivität, werden zunehmend bevölkert von öffentli-chen Körpern, die Cyborgs und Produktionsmittel in einem, also zugleich Kapital, Ware und Arbeit sind.

Das zweite Leitprinzip des "öffentlichen Körpers" heißt Reengeneering. Anfang der neunziger Jahre am Massachusetts Institute for Technology MIT entwickelt, ist das Prinzip des Reengineering ein wesentlicher Baustein der postfordistischen Produktionsweise. Zentrale Organisationsstrukturen werden durch azentrisch organisierte Produktionsströme, durch Netzwerke ersetzt. Indem das Just-in-time-Prinzip der Produktion, das die Lager- und Verwaltungskosten an Subunternehmer und Zulieferbetriebe delegiert, auf das Personal ausgedehnt wird, schrumpft die Kernbelegschaft bei gleichzeitiger Erhöhung des Profits. »Reengineering« ist als Organisierungsprinzip in den Netzwerkstrukturen der Techno- und Netzkulturszene eingegangen, der dabei bearbeitete Produktionsstoff ist oftmals das Soziale. So waren die Anfänge der Clubkultur von einem offenen Arbeitsprinzip gekennzeichnet, das die Beteiligten - die Betreiber ebenso wie die Gäste - in einen Zusammenhang stellte. Das Fehlen klar definierter Tätigkeitsfelder verhinderte eine arbeitsteilige Hierarchie. Der DJ konnte potenziell hinter der Bar bedienen. Der soziale Gesamtzusammenhang schloss die Kluft zwi-schen Management und Infrastruktur, die wieder sichtbar wurde, je professioneller ein Club agierte.

Das dritte Leitprinzip des öffentlichen Körpers ist die "Integrierte Fabrik". Wo sich die ganze Gesellschaft in eine »integrierte Fabrik« nach dem Modell des japanischen Toyotismus, oder, auf die Vorschläge der Hartz-Kommission bezogen: in eine gigantische Ich-AG verwandeln soll, tauscht das Subjekt seine Zugehörigkeit zur Gemeinschaft mit seinem sozialen Selbstverlust ein. Die Selbstverwirklichung des Arbeiters vollzieht sich dann ausschließlich in seiner Arbeit und nicht mehr in seinen sozialen Beziehungen außerhalb der »integrierten Fabrik«. Das Toyota-System oder der Ohnismus (benannt nach seinem Erfinder Taiichi Ohno) sehen ein hohes Maß an Selbstverwaltung des Produktionsverlaufs durch die Arbeiter sowie ein Maximum an Flexibilität und Kreativität vor, um die Produktivität zu erhöhen. Die »integrierte Fabrik« fördert die Kreativität ihrer Arbeiter, um sie effektiver abschöpfen zu können. Der Arbeiter verliert seine Individualität und geht in der Gruppen- und Gemeinschaftsidentität des Unternehmens ganz auf. Die aktive Teilhabe an politischen Prozessen verwandelt sich in eine passive Teilnahme an der Unternehmenskultur. Selbst die Nebenprodukte des Toyotismus - Anhäufung von Wissenskapital und Arbeitslosigkeit - lassen sich für die soziale Kontrolle gut verwerten: Sie bilden einerseits Wissenseliten und versetzen andererseits die Arbeiter der »integrierten Fabrik« in Angst und Schrecken, den »siche-ren Arbeitsplatz« sowie die Gruppen- oder Gemeinschaftsidentität (die eine Unternehmensidentität ist) zu verlieren.

Statt Ihnen Hoffnung zu machen, wie eigentlich zum Schluss eines Vortrags üblich, will ich ein düsteres Beispiel eines hybriden öffentlichen Körpers geben, der eine Reihe von oben beschriebenen Attributen aufweist und der die gesellschaftlichen Konflikt-stoffe direkt in sein Inneres leitet:

Ich meine den so genannten Amok-Läufer, dessen öffentlicher Körper zum politischen Projekt wird, indem er eine öffentliche Tat nicht dagewesenen Ausmaßes begeht. Dieser psycho-ökonomisch beschädigte öffentliche Körper trägt den Robert Steinhäuser. Neben den Meistern in Weitspucken und Dauerduschen wird künftig in der Kategorie Amoklauf der Erfurter Gymnasiast Robert Steinhäuser im Guiness-Buch der Rekorde als Weltrekordler im Erschießen von Lehrern und Mitschülern geführt werden. Zwei Schülerinnen, eine Sekretärin, einen Polizisten und 12 Lehrer ballerte der pummelige Robert S. ab. Dann erschoss er sich selbst.

Wissensgefängnis Schule

Um den öffentlichen Körper von Robert Steinhäuser zu erfassen, müssen zunächst die sozialen Orte beschrieben werden, an denen sein Körper zugerichtet wurde, in diesem Fall die Schule, auch sie eine integrierte Fabrike des Wissenserwerbs und der sozialen Kontrolle. Von Schulen gehen keine gesamtgesellschaftlichen Impulse in Fragen der politischen Mündigkeit und der sozialen Kompetenz aus. Schulen heute bieten ein dü-steres Bild: Zu Wissensgefängnissen umgebaut, sind sie ein einziges Alcatraz des Leistungsdrucks. Schulen sind ein exaktes Abbild der gesellschaftlichen Gesamtsituation und nicht eine Enklave zum Experimentieren von Lebensentwürfen. Die Zurichtung des Körpers nach dem Just-in-time-Prinzip einer effizienten berufsqualifizierenden Wissensproduktion, nicht mehr die Persönlichkeitsentwicklung und die Emanzipation des Einzelnen bildet den inneren Kern des Schul- und Hochschulsystems. Autonomie und Begehren werden als soziale Fehlverhalten bestraft.

Vor einem solchen Hintergrund bekommen Gewalttaten von Schülern eine andere gesellschaftliche Bedeutung. Die übergeordneten Zusammenhänge zwischen Gewalt und Leistungsdruck und zwischen Individualität und sozialer Kontrolle zu übersehen und stattdessen die Gründe für den so genannten Amoklauf allein in der persönlichen Sphäre des Amokläufers zu suchen, ist eine Gewaltanwendung der Marktdemokratie gegenüber seinen Jugendlichen. Gewaltausbrüche gegen ein übermächtiges System des Überwachens und Strafens scheinen da vorprogrammiert.

Seelenlose Blade Runners

Von einem neuen Sozialdarwinismus der Marke Blair / Schröder zugerichtet, bleibt den Jugendlichen nichts anders übrig, als ihren öffentlichen Körper zu feiern oder zu zerstören. Hedonismus oder Selbstdestruktion - beide Extreme entspringen dem Wunsch, das eigene Selbst und den eigenen Körper nach den Vorgaben der Gesellschaft zu erschaffen und zu gestalten. Der eine züchtigt seinen Körper auf der Love Parade, der andere lebt seinen Todestrieb beim Darkwave-Ritualmord aus. Die mit Skimasken und schwarzen Trenchcoats bekleideten, mit abgesägten Schrotflinten, Neun-Millimeter-Pistolen, Karabinern und selbstgebauten Sprengsätzen bewaffneten zwei Amokschüler von Littleton, die 1999 im schwarzen BMW an der Columbine High School vorfuhren und einen Lehrer und zwölf Mitschüler töteten, sind ebenso wenig wie Robert Steinhäuser Monsterkids, nur weil sie Marilyn Manson und Rammstein hörten und "Quake" spielten. Aufgewachsen in einem seit Ronald Reagan umdefinierten sozialen und kulturellen Raum, mutierten sie zu Einzelkämpfern der Finsternis.

Wo der Lehrer mit schlechten Zensuren und mit Relegation droht, hält der Schüler schon den Baseballschläger und die Pumpgun bereit. Das positive, von der Ironie der Punks und den Stilexperimenten der NDW bereinigte Leitbild des neuen deutschen Gesamtjugendlichen hat in Erfurt seinen öffentlichen Körper vorgezeigt. Der Wunsch von Jugendlichen nach gelebter sozialer Identität befriedigen zunehmend Gruppen mit autoritären und stereotypen Denkmustern wie die Skinheads oder die Neonazis - oder eben das Phantasma des apokalyptischen Einzelkriegers, der sich selbst zerstört, nachdem er die Welt in die Luft gejagt hat.

Passend zum Jahrestag des Anschlags auf das World Trade Center vom 11. September wage ich die Prognose: Den seelenlosen, leistungsgeprügelten und fundamentalistischen Blade Runners und Selbstmordattentätern gehört der öffentliche Raum der Zukunft.


Marius Babias

 

www.stadtraum.org